• Charlotte Sattler

»Wärste ner auf’m Arsch drham geblieb’m« 

Im sächsischen Erzgebirge hat sich unsere Autorin zwischen Schwibbögen, Bratwurst und Räuchermännchen auf die Suche nach dem Heimatgefühl gemacht. Entstanden ist eine Liebeserklärung an eine Region mit stolzen Menschen und bemerkenswerten Traditionen. 

Autorin: Ulrike Berg 

Die massive Holztür öffnet sich mit einem Knarzen. Wir schlüpfen in einen halbdunklen Raum mit urigen Gewölben. Feuchte Luft schlägt uns entgegen, getränkt mit einem intensiven Duft. An den langen Tischen sitzen Touristen, Sonntagsausflügler und eine Gruppe Konfirmanden. Mein lang gezogenes »Moin!« sorgt für leises Kichern. »Glück auf!«, ruft Thomas und reicht mir eine Schürze. Zwei Minuten später sitze ich vor einem kleinen Schieferbrett und einer Menge Blechdosen mit einer puderartigen Substanz. Weihrauch, verrät eine Aufschrift. Zimt eine andere. Myrrhe, Opium, Mastix, Sandelholz. Wir sind im »Raacherkerzel-Stolln« im Crottendorfer Räucherkerzenland. Thomas gibt jedem einen Kloß aus Holzkohle, Kartoffelstärke und »e Dippl« Wasser, den wir kneten sollen. Im Nu sind unsere Hände tiefschwarz. 1936 hat Freya Graupner den Betrieb gegründet, 2017 hat das heutige Kerzenland eröffnet. Räucherkerzen mit über 30 verschiedenen Düften werden hier maschinell hergestellt und auf einer großen Ladenfläche verkauft, es gibt ein Café, ein Museum und Kreativwerkstätten. Thomas zeigt uns, wie man den Kloß mithilfe eines Spachtels fachmännisch teilt, mit Duft versetzt und daraus kleine Kegel dreht – die typischen Räucherkerzen, die an der Spitze angezündet werden und in Räuchermännchen oder -häusern abbrennen. Die Düfte sind längst nicht mehr nur adventlich, es gibt auch sommerliche Mischungen wie »Zen Garden« oder »Blütenbouquet«. Mit einer Bergamotte-Note lassen sich sogar Mücken vertreiben. Für Yvonne Dietze, die Leiterin des Kerzenlandes, hat die alte Tradition viel mit Stressabbau zu tun: »Der Mensch erinnert sich extrem an Gerüche. Hab ich einen Krankenhausgeruch und riech ich das irgendwo anders wieder, hab ich sofort ein ungutes Gefühl, weil ich mit Krankenhaus meistens was Negatives verbinde. Dasselbe ist es mit den Räucherkerzen. Das nimmt man auf und dann denkt man: ›Och, das ist doch wie bei meiner Oma damals, wo ich gespielt hab.‹ Das sind halt Erinnerungen, die daran haften.« Mit mir zusammen dreht Sabine Hohmann Räucherkerzen. Die 51-Jährige lebt in Walthersdorf, einem Ortsteil von Crottendorf. Ich habe sie im vergangenen Jahr bei einer Andere-Zeiten-Veranstaltung kennengelernt. Jetzt zeigt sie mir ihre Heimat. Sabine ist Erzgebirgerin durch und durch. Den Ruf der Region als öde Provinz, in der sture, kleinkarierte Menschen leben, quittiert sie mit einem Lächeln. Keine zehn Pferde könnten sie von hier wegkriegen. Für ihren Mann Jörg Hohmann, einen gebürtigen Wuppertaler, der in Berlin lebte, als er Sabine kennenlernte, bedeutete das, dass er sich entscheiden musste: Sabine gab’s nur mit Erzgebirge obendrauf. Seitdem lebt er hier. 

Verliebt in die Natur 

Als wir unsere schwarzen Hände mit einer Wurzelbürste schrubben, erzählt Jörg, wie es ihm ergangen ist, als er vor fünf Jahren hierherzog: »Der Erzgebirger ist doch eher traditionell veranlagt. Das ist jetzt keine rheinische Frohnatur, der eben mal ein Bier mit dem anderen trinkt und alles Mögliche erzählt. Das dauert ne Zeit lang. Die wollen gewonnen werden. Aber wenn du die dann gewonnen hast, kannst du da dein Haus drauf bauen.« Er habe es sogar geschafft, in den Crottendorfer Gemeinderat gewählt zu werden. »Als Uhiesscher, also Zugezogener, gar nicht so einfach!«, lacht er. Ich fahre mit Sabine und Jörg auf den 800 Meter hohen Scheibenberg. »Hier oben im Berggasthof haben wir unsere Hochzeit gefeiert«, erzählt Jörg stolz. Sabine schwärmt von einer Tour mit dem Mountainbike, dem »Stoneman Miriquidi«: 162 Kilometer und 4400 Höhenmeter. »Diese Natur ist einmalig!« Wir schauen in die Weite. Jörg deutet begeistert auf einen kleinen weißen Punkt irgendwo hinten im Dunst. »Das ist der Fichtelberg, der höchste im Erzgebirge. Da sieht man sogar ein bisschen Skipiste!« Ich sehe mich um: blasse Wiesen, kahle Fichten mit Borkenkäferbefall, ein paar nebelverhangene Dörfer. Och Leute, das kann doch nicht euer Ernst sein!? Schon mal auf der Zugspitze gestanden? Einen Sonnenuntergang an der Nordsee erlebt? Das Donnern eines Wasserfalls auf Island gehört? Das hier ist weder gewaltig noch beeindruckend. Mein Blick wandert wieder zu Sabine und Jörg. Sabine lacht ausgelassen, Jörg erzählt und sprudelt vor Begeisterung. Irgendetwas ist hier. Etwas Besonderes. Aber es hat nichts mit der Natur zu tun. 

Wie Pech und Schwefel 

Am Nachmittag treffe ich den Mäuser Marcel und die Liebscht Kristin (Nachnamen stellt man im Erzgebirge voran). Kristin kommt aus Schlettau. Sie ist 18, geht noch zur Schule. Marcel lebt mit seiner Familie in Walthersdorf. Aufgewachsen ist der 49-Jährige in Schlettau. Zur Wende war er 14. Zum Zivildienst ging er nach Ulm, hat danach 13 Jahre in Oberbayern gelebt. Ein knappes Jahr war er sogar in Finnland. »Ich war lange genug weg und da lernt man Heimat schätzen. In Bayern hab ich gedacht: ›Kommst eigentlich aa aus ner schönen Gegend.‹« Warm geworden ist er mit Oberbayern nie. 2012 zog er gemeinsam mit seiner Familie in den Erzgebirgskreis zurück. »Ich bereue das keine Sekunde. Ich hab hier Dinge, die hätte ich woanders nicht gehabt: Familie, Freunde, dieser Zusammenhalt.« Ich denke an die glückliche Sabine auf dem Scheibenberg, die die Schönheit der Natur bei Weitem überstrahlt hat, und bekomme eine Ahnung. Marcel scheint meine Gedanken zu lesen: »Die Landschaft ist es weniger. Mittelgebirge hast du überall. Aber das ist das Pfund dieser Region: die Verlässlichkeit, der Handschlag. Weil das immer eine arme Region prägt. Wenn hier was ist, dann stehen die Leute vor deiner Tür und helfen dir.« Kristin weiß, dass auch sie eines Tages den Erzgebirgskreis verlassen muss: fürs Studium. Zurückkommen will sie auf jeden Fall. »Viele in meinem Alter wollen unbedingt weg und sagen: ›Da sind so viele alte Omas und dann gucken die immer aus dem Fenster und dann unterhalten die sich über alles.‹« Jörg nennt es das »erzgebirgische Facebook«. Kristin lacht: »Abr iech kah driber lachn.« Sie liebt den erzgebirgischen Dialekt, findet es schade, dass viele in ihrem Alter ihn nicht mehr sprechen. Deshalb schreibt sie Gedichte auf Erzgebirgisch. Generell ärgern Kristin manche Vorurteile gegenüber ihren Landsleuten: »Das Bild vom Erzgebirger, der stur und nicht offen ist für andere, der gegen alles ist, was nicht von hier kommt, und der AfD wählt – das ist so’ne hasserfüllte Meinung, die ich net versteh.« Natürlich hat auch Kristin manchmal Fernweh. »Wär schon schön, am Meer zu wohnen. Das ist so’n Lebenstraum. Aber spätestens, wenn Weihnachten kommt, würd ich denken: ›Wärste ner auf’m Arsch drham geblieb’m!‹« Weihnachten ist die Zeit, in der Kristin für das restliche Jahr auftankt: »Weil alles so warm ist, überall leuchten Kerzen und Lichterbögen. Das ist Heimat!« Sabine erzählt von den Hutzenabenden, einer uralten erzgebirgischen Tradition. »Früher haben die Menschen gemeinsam Handarbeiten gemacht. Die Männer haben geschnitzt, die Frauen geklöppelt. Jetzt treffen wir uns mit Freunden und basteln und singen erzgebirgische Lieder.« Ich seufze. Wage den Einwand, ob das nicht alles auch ein bisschen romantisch-verkitscht ist, vielleicht sogar rückständig-konservativ – und ernte mitleidige Blicke. Traditionen muss man erleben. Erklären kann man ihren Wert nicht. Marcel versucht es trotzdem: »Das ist so was wie ein Gegenpol zur großen weiten Welt, wo Veränderung ist. Zu sagen: Ich halte dagegen! Ne Konstante, ne Tradition. Du weißt, dass das, was in der großen weiten Welt gerade passiert, Auswirkungen auf dich und deine Heimat hat – aber du versuchst in deiner Familie, in deiner Gemeinde das festzuhalten, diese Konstante, diese Sicherheit.« 

Leben in Resonanz 

Wir machen noch einen Abstecher in die Destillerie vom Brenner Lutz. Die Region ist bekannt für ihren Kräuterbitter. 1898 hat der Schlettauer Hermann Uhlig den Betrieb gegründet. Stolz zeigt Lutz das allererste Kassenbuch. Er ist in Chemnitz geboren und 1984 hierhergezogen, der Liebe wegen. Ein Jahr später hat der heute 65-Jährige die Destillerie übernommen. Wir stehen zwischen riesigen Steingutfässern, in denen Lutz verschiedene Kräuter in Alkohol angesetzt hat: Pomeranzenschale, Nelken, Zimt, Angelika- und Enzianwurzel. »Das ist schon lange meine Heimat«, erzählt der gelernte Hochfrequenztechniker. »Als wenn ich hierher gemusst hätte. Das hat ein paar Jahre gedauert, bis die Leute wussten: Mit dem kannste was anfangen. Und dann bist du drin. Ich fühl mich hier 100-prozentig zuhause.« Lutz nimmt eine von den großen Messingkannen und gießt Wasser in eines der Fässer. 20 verschiedene Sorten Kräuterschnaps stellt er her, das bekannte »Grubenfeuer« ist eine Idee von Lutz. Während er uns vorführt, wie man das »Grubenfeuer« in ein flaches Steingutschälchen gießt und anzündet, kommt er ins Schwärmen: »Ich lebe hier in Resonanz. Das ist diese Rückständigkeit, dieses Traditionelle, das mir total entspricht. Hier ist nur das Allernötigste verändert. Das reicht. Das muss nicht alles immer schneller, höher, weiter.« Auch er liebt die Weihnachtszeit im Erzgebirge. »In jedem Fenster ist Licht, in jedem. Wer es nicht gesehen hat, kann es sich nicht vorstellen.« Ich möchte es sehen, zumindest eine Ahnung bekommen. Wir besuchen die Schwibbogenmanufaktur in Jöhstadt nahe der Grenze zu Tschechien. Inhaber Jens Niederle führt uns in seine Werkstatt. Auf der Werkbank liegt ein Schwibbogen mit dem Schriftzug »Amrum«. Ich staune. »Das ist eine Spezialanfertigung«, erklärt Jens. Städte und Gemeinden aus ganz Deutschland bestellen bei ihm Schwibbögen mit regionalen Motiven. Auf diesem ist eine Möwe zu sehen, ein Leuchtturm, ein Segelboot und die Silhouette der Nordseeinsel. Die Schnitzereien werden auf der CNC-Maschine gefertigt, alles andere ist Handarbeit. »Allein für den Bogen sind das 146 Arbeitsschritte.« Der gelernte Tischler ist in Jöhstadt groß geworden. »Heimat ist da, wo ich aufgewachsen bin, und zuhause ist da, wo ich mich wohlfühle«, erzählt er, während er die Kerzen auf dem Amrumer Schwibbogen mit Kleber in den vorgestanzten Löchern befestigt. »Heimat ist für mich aber auch Weihnachten. Wenn am 1. Feiertag der Stollen angeschnitten wird. Da freu ich mich das ganze Jahr drauf.« Wir betreten den Verkaufsraum. Die Regale sind vom Boden bis unter die Decke mit Schwibbögen und Lichterspitzen in allen Variationen gefüllt, die größten über einen Meter hoch. Und alle leuchten in warm-gelbem Licht. »Kein grelles Weiß oder buntes Licht und kein Blinken«, erklärt Sabine. »Das ist erzgebirgische Tradition.« 

Von Land und Leuten 

Jeder einzelne Schwibbogen erzählt eine Geschichte. Ein Haus im Tannenwald. Die Heilige Familie im Stall von Bethlehem. Bergmänner bei der Arbeit. Frauen beim Klöppeln. Eine Dampflok in den Bergen. Und immer wieder das Kreuz aus Schlägel und Eisen, das Symbol der Bergleute. Jens Niederles Spezialmotiv ist ein Engel und ein Bergmann. Sie stehen nebeneinander, tragen in beiden Händen eine brennende Kerze. Die Tradition der Schwibbögen reicht weit zurück. Heiligabend 1726 beobachtet der Bergschmied Johann Teller die Bergleute beim Verlassen des Schachtes. »Dann haben die rings um ihr Mundloch, also um den Eingang vom Bergwerk, ihre Grubenlampen gehängt«, erzählt Jens. »Und darunter haben sie Mettenschicht gefeiert und vom Obersteiger ihre Auslöse fürs ganze Jahr gekriegt.« Teller stellt die Szene in einem schmiedeeisernen Schwibbogen mit Wachskerzen nach. 1936 greift eine Leipziger Illustratorin das Motiv auf und fertigt den ersten Schwibbogen der Neuzeit. »Ich sage immer: Das ist die Mutter aller Schwibbögen.« Draußen vor der Werkstatt heißt es Abschiednehmen. Als ich Sabine und Jörg drücke und ihnen im Rückspiegel nachwinke, ist mir ganz warm ums Herz. Ich weiß, ich werde wiederkommen.

 

Dieser Artikel stammt aus unserem Themenheft 

Anders Handeln »Heimat«