»WÜRDE TRÄGT MAN NICHT – WÜRDE HAT MAN«

Franz Müntefering hat in verschiedenen Rollen in der SPD die Sozialpolitik in Deutschland geprägt. Dem Thema Älterwerden gilt sein besonderes Engagement. Ein Gespräch über Würdenträger, Selbstachtung und schlagende Lehrer.

Interview: Sabine Henning 
Fotos: Paulina Hildesheim

Herr Müntefering, wie würden Sie den Begriff Würde definieren?
Das ist nichts Feines, nichts Heiliges, nichts Lackiertes. Würde ist, dass Menschen so sein können dürfen, wie sie sind. Möglichst so, dass sie anderen Menschen das Gleiche zugestehen. Dass sie achtsam sind. Dem Wort Nächstenliebe würde ich nicht ausweichen. Von meiner Mutter habe ich gelernt: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei – also den Vers aus dem Korintherbrief – das Größte ist die Liebe. Als Kind hat sie mir diesen Vers oft gesagt. Einmal habe ich gefragt: »Was bedeutet das?« Da hat sie geantwortet: »Erstens: Mit dem Glauben ist das so, manche können glauben, manche können nicht glauben, das hat man nicht so ganz im Griff. Zweitens: Die Hoffnung ist, dass alles gut ausgeht. Zuversicht haben. Und die Liebe, das ist eigentlich das Entscheidende dabei. Also wie du mit Menschen umgehst.«

Haben Sie ein Beispiel, wie Ihre Mutter das im Leben umgesetzt hat?
Ja. Wir hatten eine kleine Wohnung mit einer kleinen Küche. Mein Vater war noch in Gefangenschaft. Und unmittelbar nach dem Krieg hingen die Bettler rum, die verkauften Kleinigkeiten und dann klopften sie. Meine Mutter sagte »Herein!« und da stand ein Bettler in der Tür. Und sagte: »GutenTag, junge Frau.« Das fand ich schon mal ziemlich schlimm, wie er sie so anquatschte. Ich wusste ja, dass sie eine ältere Frau war. Und dann sagte er: »Ich hab Hunger, ich hätte gerne was zu essen.« Und sie: »Setzen Sie sich mal an den Tisch hier, entweder kriegen Sie eine kleine Milchsuppe oder eine Schnitte Brot.« Ich saß daneben und machte Schularbeiten. Und der Kerl roch nicht gut. Und er quatschte ein dummes Zeug daher. Und das war für mich ziemlich peinlich. Als er weg war, habe ich zu meiner Mutter gesagt: »Das ist ja gut, dass du dem etwas zu essen gibst. Aber du hättest ja auch sagen können: ›Warte einen Moment im Flur, ich bringe dir die Schnitte Brot raus.‹« Daraufhin sagte meine Mutter zu mir: »Man zwingt keinen Menschen, im Stehen zu essen.« Zack. Unschlagbar. Das vergisst man nicht.

»Meine Mutter sagte: ›Man zwingt keinen Menschen, im Stehen zu essen.‹«

  • Franz Müntefering am Tisch, lächelt
    Fotocredit: Paulina Hildesheim
  • Franz Müntefering, lachend am Tisch
    Fotocredit: Paulina Hildesheim
  • Franz Müntefering schreibt etwas auf ein Blatt Papier
    Fotocredit: Paulina Hildesheim

Wie altert man in Würde?
Würde hat der Mensch immer. Da berufe ich mich auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Würde im Älterwerden heißt für mich, dass man in seiner Art respektiert wird. Und dass ich mein ganzes Leben als »meine Gegenwart« erfassen kann – und damit auch gehört werde.

Hat das auch etwas mit Würde zu tun – Raum dafür zu bekommen, über Vergangenes zu sprechen?
Die Älteren müssen Gelegenheit haben, ihr Leben zu reflektieren. Das muss man fördern, nicht nur in Seniorenheimen. Man muss ältere Menschen anregen, das nicht zu verschütten. Für solche Gespräche besteht ein Bedarf, der oft nicht erfüllt wird.

Haben Sie den Eindruck, dass sich das Bild der älteren Menschen verändert hat?
Ich glaube, diese Generationen lernen, dass der Ausstieg aus dem Berufsleben nicht das letzte Stück ist. Sondern, dass da noch was kommt und dass man sich darauf vorbereiten kann. Ich mache morgens immer eine halbe Stunde Gymnastik im Badezimmer. Sieht einen ja keiner. Ist alles Gewohnheitssache und tut gut. So kann man sein Leben auch praktisch verlängern. Und gesund essen!

Hat Würde etwas mit Kontrolle über das eigene Leben zu tun?
Kontrolle würde ich nicht sagen. Es ist mehr die Akzeptanz, dass man nicht abgehängt wird, dass man im Älterwerden eine Rolle hat und auch selbstbewusst über sein eigenes Leben sprechen kann.

Was trägt Arbeit dazu bei, dass man Würde oder Selbstachtung empfindet?
Wir müssen lernen, mit einer größeren Flexibilität alt zu werden. Etwa jeder fünfte Mensch im Rentenalter ist beschäftigt. Ich höre immer öfter: Eigentlich bin ich Rentner, aber ich möchte noch ein Jahr länger machen oder halbtags arbeiten. Da muss der Staat möglicherweise ein bisschen helfen, indem er das steuerlich günstiger macht, indem er Anreize gibt.

Sie waren ja federführend dafür verantwortlich, dass die Rente mit 67 Jahren eingeführt wurde.
Ja. Da war ich heftig umkämpft. Aber das war richtig. Das wird sich auch noch weiterentwickeln, aber individuell. Die Berufe sind unterschiedlich, manche sind ja körperlich sehr anspruchsvoll.

Wie ist das, wenn ein Mensch im Alter nicht mehr selbst für sich eintreten kann, weil er oder sie dement ist oder einfach zu schwach? Müsste es da noch mehr Hilfen geben?
Helfen und sich helfen lassen, das ist die eigentlich zentrale Formel. Aber dabei braucht man Fingerspitzengefühl. Wichtig ist: ältere Menschen so lange wie möglich gewähren und mitentscheiden lassen.

Sehen Sie Artikel 1 des Grundgesetzes denn eingelöst – etwa, wenn wir die Situation von Geflüchteten ansehen, besonders von geflüchteten Kindern? 
Das wird an vielen Stellen nicht eingelöst, auf der ganzen Welt nicht. Das ist bei uns noch relativ gut, aber auch bei uns gibt es  solche Missstände. Das wird zum Teil von den Menschen verursacht – ich will das nicht nur dem Staat hinschieben. Aber er muss sich darum bemühen, Menschen Möglichkeiten zu geben, damit sie ihre Würde wahrnehmen können. Und das kann der Staat nicht immer allein, sondern das muss auch die Gesellschaft tun. Da sind ganz viele Menschen, die Außerordentliches leisten – und das nicht nur aus christlicher Überzeugung.

Würde ist ja auch etwas, das an einen herangetragen wird: Menschen werden von der Sozialgemeinschaft zu »Würdenträgern« gemacht. Wie war das für Sie, als Sie aktiv in der Politik waren? Sie hatten weder Abitur noch ein Studium, geschweige denn einen Doktortitel.
Ich hatte da keinen Minderwertigkeitskomplex. Klar, man hat unterschiedliche Chancen. Als ich in der vierten Klasse war, kam der Rektor  zu uns nach Hause und hat mit meinen Eltern darüber gesprochen, ob ich aufs Gymnasium gehen sollte. Doch die Fahrtkosten waren zu hoch und wir wollten ein Haus bauen. Also haben meine Eltern gesagt: Wer ein guter Katholik werden soll, muss nicht extra aufs Gymnasium gehen. Und ich war auch ganz zufrieden damit. Ich hatte Zeit zum Fußballspielen. Ich war 14 Jahre und zwei Monate alt, als ich aus der Schule kam und anfing zu arbeiten. Das Wort Würdenträger ist für mich ein schweres Wort, ich kann das kaum aussprechen. Würde trägt man nicht. Würde hat man.

»Würdenträger ist für mich ein schweres Wort. Ich kann es kaum aussprechen.«

Waren Sie schon mal in Situationen, in denen Sie dachten: Jetzt bin ich in meiner Würde verletzt – und ein Schamgefühl gespürt haben?
(lange Pause) Ja, sicher. In meiner Kindheit wurde noch in den Schulen geschlagen. Es waren bestimmte Kinder in meiner Klasse, die ein Lehrer geschlagen hat, und zwar recht kräftig. Alle saßen da, erschrocken und erschüttert. Das ertragen zu müssen, ohne was zu machen. Oder zu meinen, man könne nichts machen – die Erinnerung daran hat mich mein Leben lang begleitet. Auch als Erwachsener kommt man in solche Situationen. Und das war natürlich auch in der Politik so. Allerdings ist man dann souveräner, macht die Klappe auf und sagt: »Jetzt ist mal Schluss hier an der Stelle.« Da hatte ich keine Hemmungen.

Was hat Würde mit Haltung zu tun? 
Würde hat was damit zu tun, dass man nicht zulässt, dass der andere geschlagen wird. Wir haben dann unseren Eltern Bescheid gesagt. Und der Lehrer ist versetzt worden. Oder nehmen Sie diese fürchterliche Serie von Missbräuchen in der Kirche. Das finde ich schon  entwürdigend für alle, wenn man weiß, die haben den halt versetzt und er hat dann woanders weitergemacht. Solange Kirche sich nicht dem  Grundgesetz beugt, sondern meint, man könnte einen eigenen Staat im Staate aufbauen, ist das für mich eine ganz schwierige Veranstaltung geworden. Ich denke darüber nach auszutreten.

Unser Konzept von Würde ist generell sehr an die Vorstellung von Autonomie geknüpft. In welchen sozialen Kontexten erleben Sie die Würde als Thema?
Ich glaube, dass das auch heute in vielen Familien und Bekanntschaften Thema ist. Die Gesellschaft ist nicht völlig anonymisiert.  Wichtig ist aus meiner Sicht, dass Menschen Informationen bekommen, die für sie wichtig sind. Deshalb sind unsere Medien ganz  wichtige »Würdenträger«. Auch die Kirchen müssen ihre Macht nutzen und die Menschen in ihren Zweifeln wirklich ernst nehmen. Und ich hoffe, dass wir in der Demokratie die Kraft haben, den Menschen die Wahrheit zu sagen über die Dinge, wie sie sind. Und sie auch einladen, mitzumachen und mitzuhelfen, dass wir die Welt gut voranbringen, dass sie nicht kaputtgeht an uns Menschen.

 

Dieses Interview stammt aus unserem Themenheft

Anders Handeln »Würde«